Der Synodale Weg der Kirche in Deutschland stößt mit einigen dort diskutierten Forderungen nach Reformen bei manchen Beobachtern auf Skepsis. Zu den Kritikern des kirchlichen Gesprächsformats gehört der emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper (88), von 2001 bis 2010 Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen. Im Interview spricht er über den ökumenischen Dialog und die christliche Solidarität mit Notleidenden.
Herr Kardinal, Papst Franziskus schickt die gesamte Weltkirche auf einen Synodalen Weg. Vorgesehen sind eine diözesane, eine kontinentale und eine weltkirchliche Phase. Laut Vatikan ist es Ziel, allen Gläubigen Gelegenheit zu bieten, „aufeinander und auf den Heiligen Geist zu hören“. Was erhoffen Sie sich am Ende der zweijährigen Debatte?
Papst Franziskus ist immer wieder für Überraschungen gut. Was er als universalen Synodalen Weg vorschlägt, ist das Ergebnis von vielen Diskussionen über das Thema Synode seit dem II. Vatikanischen Konzil. Synoden sind kein Parlament, keine „Papierfabrik“, die lange Papiere verfasst, die nachher kaum jemand liest, auch kein Kirchenregiment, das sagt, wo es lang geht.
Synoden sind Ratsversammlungen, in denen sich in Krisensituationen der Bischof mit seinem Presbyterium und den Gläubigen gemeinsam den Zeichen der Zeit stellt, auf das Evangelium schaut und im Gebet wie im Austausch untereinander hört, was der Heilige Geist den Gemeinden sagt (Offb 2.7 u.a.). Wenn es dabei – wie das Konzil formuliert – zu einem „einzigartigen Einklang“ zwischen Vorstehern und Gläubigen kommt, dann ist das ein Zeichen des Heiligen Geistes, dass wir auf dem rechten Weg sind (Offenbarungskonstitution, 10).
Mit seiner Initiative will der Papst jetzt das ganze Volk Gottes weltweit mobilisieren und es zu Gebet, Schriftlesung und Beratung einladen über den Weg, der aus der gegenwärtigen Krise in die Zukunft führen kann. Ein solcher synodaler Prozess kann die Kirche nicht neu erfinden, er kann jedoch beitragen, dass sich die Kirche im Heiligen Geist erneuern lässt, und sie als ewig junge Kirche einladend wird für die vielen Menschen, die gerade heute suchend auf dem Weg sind. Ich finde, das ist im Vertrauen auf die Führung des Geistes Gottes eine großartige und eine mutige Idee.
Die Kirche in Deutschland befindet sich auf dem Synodalen Weg. Was als Gesprächsformat für eine strukturierte Debatte gedacht ist, lässt zum Teil himmelweite Unterschiede in den jeweiligen Auffassungen erkennen. Mitunter sind schroffe Worte zu hören. Gelegentlich fühlt man sich beim Diskurs an eine Passage aus der Apostelgeschichte erinnert: „Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte großes Durcheinander und die meisten wussten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war.“ Wie erst soll man da für die gesamte Weltkirche auf einen gemeinsamen Nenner kommen?
Sie haben den ganz andersartigen deutschen Synodalen Weg, so wie man ihn aus den Medien wahrnehmen kann, zutreffend beschrieben. Er gibt in der Öffentlichkeit wahrlich kein gutes Bild. Ich mache mir große Sorgen, bin jedoch mit einem abschließenden Gesamturteil vorsichtig. Bisher hören wir einzelne, zum Teil schrille Stimmen und einzelne öffentlich laute Gruppen, aber wir haben noch keinen Beschlusstext.
Für den Anfang mag es ja gut gewesen sein, die unterschiedlichen Meinungen ungefiltert zu Wort kommen zu lassen. Aber es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, dass Forderungen wie Aufhebung des Zölibats und Priesterweihe von Frauen am Ende die Zwei-Drittel-Mehrheit der Bischofskonferenz finden oder in der universalen Kirche konsensfähig sein könnten. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass das Gebet vieler treuer Katholiken hilft, den Synodalen Weg auf katholische Geleise zu lenken.
Der Synodale Weg steht strukturell auf schwachen Beinen. Er ist weder eine Synode noch ein bloßer Dialogprozess. Jetzt am Anfang ist er ein Dialogprozess, dann hat die Bischofskonferenz das Wort und schließlich ist, was die universalkirchlichen Forderungen angeht, der Papst am Zug. Außerdem ist jeder Bischof frei, in seiner Diözese zu übernehmen, was ihm geeignet erscheint. Wie das alles auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist, ist angesichts der offensichtlichen Uneinigkeit der deutschen Bischöfe schwer vorstellbar. Dazu kommt der noch schwerer wiegende inhaltliche Geburtsfehler.
Sie haben im Blick auf die Debatten hierzulande davor gewarnt, die Katholiken in der Weltkirche auf einen deutschen Weg bringen zu wollen. Die Deutschen sollten den anderen nicht einfach sagen, wo es langgehe. Sind Enttäuschungen vorprogrammiert?
In den letzten Jahrzehnten bin ich viel in der Weltkirche unterwegs gewesen und seit 20 Jahren lebe ich in Italien. Wir Deutsche genießen in der Welt Respekt für unser klares Denken, für unser Organisationstalent, unsere Spendenfreudigkeit, auch für die Theologie. Ich stelle aber auch fest, dass andere Völker gereizt reagieren, wenn wir den Eindruck erwecken, wir wollten ihnen den Kurs vorgeben nach dem Motto: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Diese Naziparole hatte schlimme Folgen, die man auch im sonst toleranten Italien noch nicht vergessen hat.
Über den Synodalen Weg höre ich immer wieder: Das sind nicht unsere Probleme, und auch in Deutschland sind es nicht wenige Frauen und Männer, die ganz andere Probleme haben. Meine Freunde von Sant’ Egidio, wahrlich keine Finsterlinge, sagen mir immer wieder: Was ihr da macht ist „fuori storia“, lebens‑, welt- und geschichtsfremd. Sind denn wirklich die Abschaffung des Zölibats und die Ordination von Frauen die Menschheitsprobleme von heute? Man muss dieser Kritik nicht in allem zustimmen, aber nachdenklich machen sollte sie uns schon.
Wir haben keinen Grund, nur als Lehrmeister aufzutreten, auch andere haben etwas zu bieten von dem wir lernen können. Wenn ich sehe, was in römischen Pfarreien und in den Vereinigten Staaten, und unter völlig anderen Bedingungen in Afrika, in der Katechese geschieht, dann sind wir katechetisches Notstandsgebiet. Damit meine ich nicht den schulischen Religionsunterricht, der unter den heutigen schulischen Bedingungen meist nicht Katechese sein kann.
Ich spreche von der gemeindlichen Tauf‑, Erstbeicht‑, Erstkommunion- und Firmkatechese, von Ehevorbereitungs- und Familienkatechese. Wo sie gut gemacht wird, finden sich in den Sonntagsgottesdiensten junge Leute, junge Familien mit Kindern, die man in Deutschland oft an den Fingern einer Hand abzählen kann. Das nehmen die anderen selbstverständlich wahr, finden den gegenwärtigen Zustand der katholischen Kirche in Deutschland nicht besonders attraktiv und verspüren wenig Lust, es uns nachzumachen.
Die Kirche in Deutschland hat im wahrsten Sinne des Wortes ein weites Feld zu beackern. Dazu gehört seit gefühlt einer Ewigkeit auch die Ökumene. Wie geht es Ihrer Einschätzung nach voran?
Der Auftrag Jesu zur Ökumene gilt überall, auch dort wo Katholiken in der Mehrheit und die Evangelischen in der Minderheit sind oder umgekehrt. Deutschland ist eine Ausnahmesituation. Denn wir sind das Land der Reformation, in dem sich evangelische und katholische Christen zahlenmäßig in etwa die Waage halten. So gehört das Zusammenleben und die Zusammenarbeit mit evangelischen Christen zu unserem Alltag.
Wenn ich an meine Kinder- und Jugendzeit zurückdenke, dann stelle ich fest, dass wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs damals völlig unvorstellbare Riesenfortschritte gemacht haben. Wenn es dennoch immer wieder hakt, dann liegt das nicht nur bei bornierten Sturköpfen in Rom, die es im Übrigen wie überall auch in Deutschland gibt. Der tiefere Grund liegt anderswo.
Zum Dialog gehören Partner, die ihre Identität haben und sich auf ihrem gemeinsamen Weg etwas zu sagen haben. Doch sowohl auf evangelischer wie auf katholischer Seite stelle ich einen beängstigenden Identitätsverlust fest. Viele wissen gar nicht mehr, was katholisch und was evangelisch ist. Sie haben die Unterschiede nicht überwunden, sie kennen sie erst gar nicht mehr. So bewegen wir uns in einer diffusen nebelhaften Traum- und Scheinökumene. Denn wenn die Fragen nicht mehr interessieren, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht mehr existieren.
Auch die Kirchen sind sich leider nicht mehr einig, wohin die ökumenische Reise gehen soll. Sollen wir es einfach beim Status quo belassen und uns gegenseitig so anerkennen, wie wir nun mal sind, oder müssen wir uns um die volle Einheit bemühen? Wenn wir über das Ziel der Ökumene nicht einig sind, dann auch nicht über den Weg.
Um weiterzukommen, müssen wir uns gemeinsam überlegen: Wer sind wir als Katholiken und als Evangelische? Was können, was wollen und was müssen wir in die größere Ökumene einbringen? Was hat Jesus von uns erwartet, wenn er gebetet hat „dass alle eins seien“ (Joh 17,11)? Wie können wir unsere Unterschiede überwinden, um in der Welt glaubhafte Zeugen der Einheit und des Friedens zu sein? Die praktische Zusammenarbeit ist ein Weg, um uns besser kennenzulernen, in dem, was wir gemeinsam haben und in dem, was uns unterscheidet.
Man hört immer wieder die Begriffe der „versöhnten Verschiedenheit“ und der „Einheit in Vielfalt“. Da gibt es auch Kritik. Das wird dann Etikettenschwindel genannt, Unterschiede würden da einfach schöngeredet, so der Vorwurf. Ist da nicht auch etwas dran? Und wie könnte diese „Einheit“ aussehen, damit man das unschöne Wort von der „Spaltung“ nicht mehr in den Mund nehmen muss?
„Versöhnte Verschiedenheit“ und „Einheit in Vielfalt“ sind inzwischen wohlfeile Leerformeln geworden. Solche Allgemeinplätze sind immer richtig, aber es kommt darauf an, was sie konkret bedeuten. Versöhnte Verschiedenheit wäre zutiefst unehrlich, würde man grundlegende Verschiedenheiten einfach stehen lassen und so tun, als wären wir einig. Bei Einheit in der Vielfalt muss man fragen: Wo ist Einheit nötig und wo ist Vielfalt möglich?
Anders gesagt: Beide Formeln beschreiben nicht den gegenwärtigen Zustand, sondern das Ziel, auf das wir uns erst zubewegen. Es ist wie beim Bergwandern. Man muss wissen, wohin man will, aber man kann die schöne Aussicht, die man oben hat, nicht im Voraus genießen. Schon die Schritte unterwegs sind interessant und erschließen uns aus unterschiedlichsten Perspektiven die herrliche Berglandschaft.
So halte ich nichts von am Reißbrett gemachten ökumenischen Entwürfen. Mich interessieren die nächsten Schritte und die Herausforderungen, die heute auf uns warten, und das sind nicht wenige.